(Anmerkung des Autors: Die Kurzgeschichte umfasst 10.500 Wörter. Dummerweise unterliegt das Forum einschließlich dieses Bereiches einer Post-Begrenzung von 5.000 Zeichen. Daher musste die Geschichte gestückelt gepostet werden, dadurch leider auch schlechte Absätze/Übergange. Schöner zu lesen hier: http://www.wartower.de/forum/showthread.php?1135590-Guild-Wars-2-Winde-des-Zerfalls)
Von den klammen Felsen und den versteinerten Seeanemonen hallte der Trauerchor einer verblassten Epoche wider. Melancholisch zurückblickend auf eine Dynastie von Reichtum und Wohlstand fächerte der Lufthauch durch die spindeldürren, turmhohen Korallenformationen, die wie knochige Hände aus dem Boden ragten und den Himmel zu fassen versuchten. Wo schlammige Salzwasserpfuhle die graue, vernarbte Erde unterbrachen, schwang die Wasseroberfläche träge im Rhythmus des klagenden Gesangs. Hinter einem Acker unerbittlicher, schroffer Felsen nahm das leise Säuseln allmählich Formen einer unangenehm steifen Küstenbrise an. In ihrer Trauer so mächtig, vermochte die Arie ganze Meere und Ozeane zu überqueren und an den weit entfernten Gestaden gleichermaßen Abenteurer wie auch Todesmutige zu den verderbten Ufern dieses von den Göttern verlassenen Landes zu locken. Das Land mit Namen Orr.
Riona Murtor hatte ihren Herzschlag der Atmung angepasst. Von dem stark reduzierten Augenlidschlag abgesehen rührte sich kaum ein weiterer Muskel. Längst hatte das Zeitgefühl die junge Waldläuferin mit dem kastanienbraunen, schulterlangen Haar verlassen. Nur wenige Minuten konnten verstrichen sein, seit sie von ihrem Stoßtrupp getrennt war, vielleicht aber sogar ganze Stunden. So weit hinter feindlichen Linien aber war Zeit bereits völlig bedeutungslos, und das wusste sie. Ebenso war sie gewiss, welche Aufgabe ihr zugetragen worden war. Sie war die Kundschafterin einer sechsköpfigen Expedition. Von ihrem Geschick, ihrem taktischen Verständnis und ihrer Geduld konnte der Erfolg, sogar das Überleben der Gruppe abhängen. Bislang hatte sie der Einheit, welcher sie angehörte, gute Dienste erwiesen, mögliche Gefahren frühzeitig registriert und Hinterhalte vermieden. Und die Göttin Melandru selbst war ihre Zeugin: So kurz vor dem Ziel zu scheitern war keine Option.
Von dem Buckel eines knapp einhundert Fuß hohen Felsmassivs spähte Riona in das Tal hinab. Die vielen übereinander liegenden, teils von einer schleimig grünen Algenschicht bedeckten Gesteinsplatten erinnerten vage an Treppenstufen und hatten den noch zu Anfang schwerfälligen Aufstieg zunehmend erleichtert. Jetzt, hoch oben, boten sie die notwendige Deckung, um in Orr zu überleben. Vielleicht sogar lange genug, um dieses verfluchte Land in einem Stück wieder zu verlassen. Erneut fegte eine besonders hartnäckige Windböe über das Versteck der Späherin hinweg. Einem Raubvogel gleich schien der Wind den Gipfel zu umkreisen, erpicht auf die nächste Gelegenheit eines Sturzfluges wartend, um dann die eisigen Klauen erneut nach der unbekannten Fremden auszustrecken. Doch bereits der letzte Angriff hatte seine Spuren hinterlassen. Rionas in Anspannung verhärtetes Gesicht bröckelte, die kurzen Nackenhaare kräuselten sich in Empörung. Sie fror. Wo zuvor Schlamm und Wasser in Unachtsamkeit ihre mahagonifarbene Brünne berührt hatten, schien sich die die Nässe zunehmend in einen eisigen Dolch zu verwandeln. Teile ihrer leichten Lederrüstung waren bereits so stark durchtränkt, dass die Feuchtigkeit die darunter liegende Haut malträtierte. Ein wärmendes Feuer zu entfachen, konnte sie jedoch unmöglich riskieren. Allein der Gedanke war töricht. Ebenso gut konnte sie versuchen, einen Karren auf Hochglanz polierter Silberlinge durch einen Skritt-Tunnel zu bugsieren – da standen die Chancen wahrscheinlich sogar noch günstiger. Je tiefer Riona in diese alberne Phantasie eintauchte, desto mehr lockerte sich ihr angespanntes Gesicht. Der bloße Gedanke hatte etwas Wärmendes, etwas Linderndes. Für einen Wimpernschlag der Zeit vermochte sie sogar ihre Situation zu vergessen und die kalte Realität um sie herum auszusperren.
Die Illusion war nur von kurzer Dauer. Schneller als es ihr eigentlich lieb war, besann sich Riona wieder ihrer Mission. Während der Blick wieder in das Tal hinab wanderte, legte sich der kalte Mantel wieder schonungslos über ihre Schultern. Die Seele krankte an Einsamkeit. Orr hatte sie wieder.
(Zuletzt bearbeitet am von Maria Murtor.7253)